Der Baummord

Zwischen 1950 und 1975 wurden in der Schweiz Hunderttausende, vermutlich eher Millionen von Bäumen gefällt. Der Kampf gegen den Alkoholismus und Millionenverluste der Eidgenössischen Alkoholverwaltung waren die Hauptgründe für die heute kaum mehr vorstellbare Aktion.
Sie kamen in militärischer Schlagkraft und immer auch mit dem nötigen Werkzeug: Auf der anderen Seite befand sich aber nicht ein militärischer Gegner, den es zu vernichten galt, sondern etwas, das eigentlich zum Wertvollsten gehört, was die Natur zu bieten hat – der Baum.

Die Rede ist von jenen landwirtschaftlichen Kolonnen, die ab 1950 vor allem in der Ostschweiz in grossem Stil Bäume fällten. Dies geschah meist unter der Ägide von Ernst Lüthi (1904–1992), der nicht umsonst den Übernamen «Obstbaugeneral» erhielt. Er sah das Fällen der Hochstamm-Bäume als eine militärische Operation, die es unter allen Umständen durchzuziehen galt. Der Aktionsleiter von Ernst Lüthi, seine rechte Hand, Konrad Stäheli, berichtet dem Historiker Franco Ruault in einem Interview im Jahre 2017, wie Lüthi meist vorgegangen ist: «Er ist dann mit dem Bauer zusammen in den Obstgarten gegangen, dann hat er gesagt: ‹Jo schau, willst du denn nicht einmal deine unrentablen Bäume wegmachen?›» Hatte ein Bauer dann seine Zustimmung gegeben, habe Stäheli sofort bei der Baumrinde einen «Schletz» weggeschlagen. Dann war er quasi dem Tod geweiht und musste gefällt werden, «bevor es sich der Bauer doch wieder anders überlegt», so Stäheli. Nicht selten sei Lüthi auch handgreiflich geworden, um zweifelnde Bauern von den Fällungen zu überzeugen.

Doch wie konnte es überhaupt zu solch drastischen Szenen kommen? Dass, heute wohl unvorstellbar, Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Bäume gefällt wurden, ohne dass sich ein Massenprotest regte? Wer befahl solche Kahlschlagaktionen und warum?

Die Geschichte der Baumfällungen beginnt mit der Angst vieler Menschen in der Schweiz der 1920er und 1930er Jahre vor dem Alkoholismus und dessen Folgen. Und für einmal macht diese Angst kirchliche und linke Kreise zu ­Verbündeten: Pfarrer wie Gewerkschafts- oder sozialdemokratische Funktionäre fürchten um die Folgen von zu viel Alkohol für ihre «Schäfchen» und Gefolgsleute. Schnell kommen dabei die Bäume ins Spiel, genauer die Obstbäume. So schreibt etwa ein Pfarrer Fritz Rudolf schon Ende der 1920er Jahre: «Wenn es nicht gelingt, aus dem wundervollen Reichtum unserer Obstbäume anderes zu machen als Sprit, dann wäre es besser, unsere Bäume umzuhauen, ­damit wir unseren Boden schonen und das kärgliche Sonnenlicht für anderes verwerten.» In ­diesen Zeilen spiegelt sich wohl die Angst, der Alkohol könne als natürlicher Feind jeglicher «Volksgesundheit», wie immer diese auch zu definieren sei, Leben zerstören. Diese Angst, die auch in vielen Ämtern in Bundesbern geteilt wird, bestand nicht völlig grundlos: 1922 beispielsweise ist der Schnapskonsum in der Schweiz ein Drittel höher als in Frankreich und beträgt sogar das Vierfache von Deutschland – immerhin zwei Länder, in denen damals vermutlich nicht wenige Menschen die Erinnerung an die Grauen des Ersten Weltkrieges im Alkohol ertränken. In den USA soll die Prohibition Abhilfe schaffen. In der Schweiz kommen bei diesem Kampf die Bäume unter die Äxte.

Wir schreiben 1930, also etwa die Zeit, in der sich auch Pfarrer Rudolf Gedanken zur Rolle der Bäume in der Schweiz macht. Eine Mehrheit der Stimmbürger nimmt in diesem Jahr ein neues Alkoholgesetz an, ein erster Versuch ist sieben Jahre früher an der Urne noch gescheitert. Mit dem jetzt angenommenen Gesetz fällt nun auch das Brennen von Obst, Wein und Beeren in die Kompetenz des Bundes. Zwar ist vor der Abstimmung von den Gegnern des Alkoholgesetzes die Angst vor einem eidgenössischen «Schnapsvogt» nach dem Vorbild des «Schulvogts» verbreitet worden, doch findet dieses Argument bei einer Mehrheit keine Zustimmung. Als Resultat wird «Bern», vertreten durch die Eidgenössische Alkoholverwaltung (EAV), gegenüber den oft als eigensinnig eingeschätzten Bauern immer wieder auch als Befehlsgeber oder «Patron» auftreten. Den Vorgaben des Bundes, das geerntete Obst nicht mehr in erster Linie zu brennen und so als Alkohol zu nutzen, sondern neben der Versorgung des inländischen Marktes auch ins Ausland zu exportieren, werden nun konsequenter als bisher Nachdruck verliehen. Der Zweite Weltkrieg setzt dem Export allerdings vorerst einmal ein abruptes Ende. Bis 1939 sei die Schweiz noch an der «Spitze der Obstproduktionsländer marschiert», heisst es rückblickend 1953 an einer Obstbautagung in Romanshorn. Doch durch den Krieg und die geschlossenen Grenzen fallen die Exportmöglichkeiten weg.

Mit dem Kriegsende 1945 findet die Schweiz allerdings nicht mehr zur alten Rolle als Grossexporteur im Obstbau zurück. Zum einen essen die Schweizerinnen und Schweizer weniger Obst, weil andere Lebensmittel nun nach den Beschränkungen des Krieges auf einmal wichtiger werden oder überhaupt erst wieder erhältlich sind, etwa Zitrusfrüchte. Zum andern gibt es auch beim Export Schwierigkeiten: «Italien, Holland, Belgien und Dänemark treten bereits auf dem europäischen Markte auf. Während Holland vor nicht allzu langer Zeit noch Obst einführte, gehört es heute zu unseren grössten Konkurrenten», sagt der Zürcher Obstbaulehrer Gustav Schmid an der gleichen Tagung in Romanshorn von 1953. In Zahlen: Exportierte die Schweiz 1946/47 noch 6000 Wagenladungen (meist Äpfel und Birnen) zu je 10 Tonnen, sind es 1950/51 bloss noch gut 1700.

Bei den Bundesbehörden beginnt nun das grosse Umdenken, schliesslich hat das Ganze auch finanzielle Auswirkungen: Das Exportdefizit beim Obst muss laut neuem Gesetz nämlich der Bund decken. Der landwirtschaftliche Obstanbau soll darum nun auch in der Schweiz so umgestaltet werden, dass er mit der wachsenden ausländischen Konkurrenz Schritt halten kann. In Bern zerbricht man sich die Köpfe, wie das am besten geschehen kann. Das Resultat: Zum einen sollen die Bauern dazu angehalten werden, vom «minderwertigen» Obst, das für Most gebraucht wird, auf das als hochwertiger betrachtete Tafelobst umzustellen. Doch das reicht noch nicht. Bei der EAV sieht man keine andere Möglichkeit, als auch Baumfällungen zu propagieren – und zwar im grossen Stil. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, nämlich 1935, spricht die Verwaltung erstmals Beiträge an einzelne Kantone für das Fällen von Birnbäumen. Doch als konsequentes Mittel gegen die Überproduktion im Obstbau kommt es erst nach 1945 zum Einsatz.

Für so einen massiven Eingriff in die Natur braucht es allerdings eine ideologische Vorbereitung, selbst wenn der Umweltschutzgedanke damals nicht besonders weit verbreitet ist. Der bereits erwähnte Historiker Franco Ruault, der im Rahmen seiner Arbeit für das neue Schweizer Mosterei- und Brennereimuseum in Arbon das Thema überhaupt erst bekannt machte, hat sich beispielsweise die in der Branche damals einflussreiche Zeitschrift Obstrundschau auf diese Problematik hin einmal genauer angesehen. Die Zeitschrift schreibt 1946: «Noch stehen zu viele minderwertige Bäume mit wertlosen Sorten in den Baumgärten. Der Markt war mit Herbstobst überschwemmt. Grosses Angebot – schlechte Nachfrage, tiefe Preise, viel Arbeit, Mühe und Ärger.» Darauf folgt die Frage: «Was können wir dagegen tun?»

Die Obstrundschau weiss natürlich, was zu tun ist. Sie schreibt kurz danach vom Wunsch, «es möchten diesen Winter noch Tausende dieser Verlustbäume fallen, damit der Weg zur Qualitätsproduktion frei wird». «Verlustbäume»: Dieser Begriff aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fasst die Einstellung von Teilen der führenden Kräfte der damaligen Schweizer Landwirtschaft gegenüber der Natur präzis zusammen: Vor allem Äpfel- und Birnbäume, von denen es beispielsweise im Kanton Thurgau immer mehr gibt, werden in erster Linie als geldfressendes, überflüssiges Ärgernis gesehen und nicht etwa als ein im eigentlichen Wortsinn gewachsenes Stück Natur, das zur Landwirtschaft gehört wie andere Bereiche auch. Bäume, die zu viel Obst tragen, werden als Kostenfaktor aufgefasst, den es zu eliminieren gilt. Und da bleibt nur die Radikallösung: Fällung.

Ein Argument für diesen Lösungsansatz ist, dass die Zahl der Obstbäume in der Schweiz vor dem Zweiten Weltkrieg immer weiter gestiegen ist: Waren es 1929 noch 12 Millionen gewesen, so sollte diese Zahl bis 1950 mehr als 20 Millionen betragen. Im Landwirtschaftskanton Thurgau betrug die Zunahme im gleichen Zeitraum rund 300 000 Bäume. Bei dieser anscheinend unaufhörlich steigenden Zahl von Bäumen im Land fällt es wohl einfacher, Unterstützung für Fällaktionen im grossen Stil zu erhalten.

Das geschieht nun auch: Schon im Winter 1950/1951 werden im ganzen Land rund 400 000 Bäume gefällt, die Hälfte davon sind alte Mostbirnbäume. Die Fällaktionen verändern das Landschaftsbild beispielsweise im Obstbaukanton Thurgau von Grund auf. Bis 1975, als die Aktionen abgeschlossen sind, werden es allein im Thurgau mehr als eine halbe Million Bäume sein. Zahlen für die ganze Schweiz liegen nicht zuverlässig vor, doch dürften sie in die Millionen gehen.

Die Aktionen sind straff, eben fast militärisch organisiert und erhalten auch den nötigen Sukkurs aus Bern. So werden die landwirtschaftlichen Vertreter von der zuständigen Kommission des Schweizer Obstverbandes entsprechend instruiert: «Es ist dabei mit aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass der Bund eine Fehlentwicklung nicht mit produktionskostendeckenden Preisen und Absatzgarantien wird honorieren können.» Kurz gesagt: kein gefällter Baum gleich kein Geld aus Bern.

Die Baumfällungen werden nun auch breiter koordiniert. Die Kolonnen haben Motorsägen, Traktoren und Seilwinden zur Verfügung und verrichten ihre Arbeit fast industriell. Bäume werden umgerissen, zu Boden gezogen, dann abgeholzt oder sogar gesprengt. Oft werden die abgeholzten Bäume gleich an Ort und Stelle verbrannt. Die Fällaktionen sind für zahlreiche Arbeiter, die oft selbst Bauern aus der weiteren Umgebung sind, eine gute Beschäftigung im Winter, wenn sowieso nicht viel gearbeitet werden kann auf dem Hof. Die Bauern, deren Bäume gefällt werden, erhalten zwischen zwanzig und vierzig Franken pro Baum, die Arbeiter, die die Bäume fällen, etwas mehr. Ein Faktor, der bei der Beurteilung natürlich nicht unterschätzt werden darf.

Beim Kahlschlag wird dabei oft Schwerstarbeit verrichtet: Walter Luginbühl, der ebenfalls zum Team von Ernst Lüthi gehört, erinnert sich viel später an den «zähen Kampf» mit den Bäumen, wie er es nennt: «Vor allem die riesigen Birnbäume auf einer Anhöhe, die hatten derart tiefe und starke Wurzeln, die hast du kaum ausreissen können.» Einmal, so Luginbühl, habe er beim Fällen eines alten Birnbaumes den daneben stehenden Hühnerstall auch noch gleich «miterledigt». Die Aggressivität, mit der zu Werke gegangen wird, mag aus heutiger Sicht befremden. In der Schweiz der 1950er und 1960er Jahre, in der das Profitdenken langsam beginnt in grossem Stil um sich zu greifen, ist die Zeit für Massenproteste gegen ein solches Verhalten gegenüber der Natur noch nicht reif. Zwar verfasst der Thurgauer Autor Hans E. Keller schon 1958 ein kleines Baumbuch für Schule und Haus. Dort findet sich der Satz: «Bei vielen Völkern war es üblich, den zu fällenden Baum um Verzeihung zu bitten. Heute rückt man den hiebreifen Bäumen mit Motorsägen, Traktoren oder Sprengstoffen zu Leibe!»

Doch die Reaktion auf das, was manche später «Baummord» nennen werden, lässt noch lange Jahre auf sich warten und kommt eher zögerlich zustande: Erst 1970 – es ist das «Jahr des Naturschutzes», und Zehntausende von Bäumen sind bereits gefällt – wird in den Spalten verschiedener, meist Ostschweizer Zeitungen dezidierte Kritik an den Fällaktionen formuliert. So appelliert ein Leserbriefschreiber in der Thurgauer Zeitung an die Bauern, «ihre Baumbestände nicht dem Renditedenken zu opfern».

Etwas später wirft eine andere Zuschrift in der gleichen Zeitung die Frage auf, ob durch das Verschwinden der riesigen Kernobstbaum­bestände nicht vor allem der Sturmwind eine «nicht zu unterschätzende Angriffsfläche» erhalte. Und der Freie Rätier aus Chur weiss einige Monate später: «Die kreischenden Motorsägen, mit denen im Winter 1970/71 Tausende von Apfel- und Birnbäumen weggeräumt wurden, liessen den aufgestauten Unwillen breiter Bevölkerungsschichten durchbrechen.»

Schon kurz vorher ist die Diskussion über die jahrzehntelangen Baumfällaktionen auch auf die politische Ebene verlagert worden. Dazu mag beigetragen haben, dass der Bund ab 1971 für den gesamten Umweltschutz zuständig wird, vorher galt dies nur für den Schutz der Gewässer. In der Sommersession der eidgenössischen Räte 1971 gibt es sogar eine regelrechte «Redeschlacht um den ‹Baummord›», wie es wiederum die Thurgauer Zeitung ausdrückt. Ausgelöst haben diese Vertreter der CVP und des Landesrings der Unabhängigen, die zum Teil damals gewisse grüne Anliegen vertreten. Der zuständige Bundesrat Nello Celio (FDP) verteidigt dabei die Aktionen mit den Worten: «Der konzentrierte Tafelobstbau bietet sowohl den Bauern wie der Volksgesundheit grössere Vorteile.» «Obstbaugeneral» Ernst Lüthi kommt seinerseits unter Beschuss: Im gleichen Jahr muss er in Anwesenheit verschiedener Nationalräte und von Bundesrat Celio detailliert Auskunft geben über die Fällaktionen, Kritik wird laut. Bald melden sich auch noch Vogelschützer zu Wort und warnen davor, dass mit dem Verlust so vieler Bäume auch der Lebensraum der Singvögel bedroht ist. Sie werden immerhin von der EAV dafür entschädigt, dass sie Nistkästen installieren.

Beim Schweizer Bund für Heimatschutz spricht man sogar vom «Massenmord an Obstbäumen». Da ist allerdings der Schaden schon weitgehend angerichtet. Im Jahre 1975 werden nochmals 16 440 Bäume umgetan und «Fäll­prämien» in der Höhe von rund 323000 Franken ausbezahlt – doch dann ist Schluss. Über­produktionen beim Obst werden nun anders ­angegangen.

Die in der Schweiz lebende Schauspielerin Ruth Maria Kubitschek sagte dem Historiker Franco Ruault in einem Gespräch im April 2017: «Im Grunde genommen war das Ganze ein Verbrechen an der Natur.» Die Rechnung dafür, so die Schauspielerin, sei «noch nicht abgeschlossen». Sie glaube, da werde noch vieles auf die nachfolgenden Generationen zukommen.

Das Schweizer Mosterei- und Brennereimuseum in Arbon zeigt eine historische Filmdokumentation zu den Baumfällaktionen. Zudem ist eine Publikation geplant.

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